An einem warmen Sommertag legten die Götter es ihr in die Hände. Als sie sah, wie zerbrechlich es wirkte, zitterte sie vor Rührung. Das war wirklich ein ganz besonderes Geschenk, das die Götter ihr da anvertraut hatten. Ein Geschenk, das eines Tages der Welt gehören würde. Bis dahin, so hatten sie ihr gesagt, solle sie es hüten und gut darauf aufpassen. Die Frau nickte und nahm es behutsam mit nach Hause. Sie würde das Vertrauen, das die Götter in sie setzten, gewiss nicht enttäuschen.
Anfangs ließ sie es kaum aus den Augen und beschützte es vor allem, was ihr bedrohlich erschien. Voller Angst sah sie zu, wenn es einmal außerhalb des schützenden Kokons, in den sie es gehüllt hatte, den Einflüssen der Außenwelt ausgesetzt war. Doch dann erkannte sie, dass sie es nicht für immer so behüten konnte. Es musste lernen, den Unbilden der Elemente zu trotzen, um stark zu werden. Mit umsichtiger Fürsorglichkeit gab sie ihm mehr Raum – genug, um in seine eigene, unverwechselbare Form hineinzuwachsen, aber nicht so viel, dass es wild und ungebärdig würde.
Manchmal lag sie nachts wach mit dem Gefühl, ihrer Aufgabe nicht gewachsen zu sein. In solchen Momenten fragte sie sich, ob sie der unermesslichen Verantwortung gerecht werden konnte, die auf ihren Schultern lastete. Doch dann hörte sie die flüsternden Stimmen der Götter. Sie wüssten, dass sie ihr Bestes gab, so versicherten sie ihr. Und so schlief sie beruhigt ein.
Im Laufe der Jahre trug die Frau ihre Verantwortung mit zunehmender Gelassenheit. Das Geschenk hatte ihr Dasein allein durch seine Anwesenheit auf so vielfältige Weise bereichert, dass sie sich kaum noch vorstellen konnte, wie ihr Leben gewesen war, bevor sie es bekommen hatte, oder wie ihr Leben ohne es wäre. Beinahe hätte sie ihre Abmachung mit den Göttern vergessen.
Eines Tages fiel ihr auf einmal auf, wie sehr sich das Geschenk verändert hatte. Es wirkte nicht mehr so verletzlich wie früher. Es strahlte eine Stärke und Unbeirrbarkeit aus, als würde in seinem Inneren ein eigener Kraftquell sprudeln. Monat um Monat sah sie zu, wie es immer stärker und kraftvoller wurde, und da erinnerte sich die Frau an ihr Verspreche. Sie wusste tief im Inneren ihres Herzens, dass die Zeit, in der das Geschenk bei ihr war, sich dem Ende näherte.
Eines Tages war der unausweichliche Moment gekommen, an dem die Götter ihr Geschenk zurückforderten, um es der Welt zu geben. Die Frau war unendlich traurig. Wie würde sie vermissen, es dauernd um sich zu haben! Aus ganzem Herzen dankte sie den Göttern für die Ehre, ihr das kostbare Geschenk so viele Jahre lang anvertraut zu haben. Sie richtete sich stolz auf und wusste, das es in der Tat ein ganz besonderes Geschenk war. Eines, das zur Mehrung der Schönheit und Essenz der Erde beitragen würde. Und so entließ die Mutter ihr Kind in die Welt.
Renee R. Vroman